Mittwoch, 2. Februar 2011

Mündig kommt von Mund - wenn ein Volk nicht länger schweigt

In einem Essay im aktuellen Amnesty International Journal schreibt die wunderbare Schriftstellerin Marica Bodrozic über den Zusammenhang von Sprache und dem Kampf um Freiheit. Ein Zusammenhang, den man in den letzten Tagen anhand der Ereignisse in Ägypten geradezu lehrbuchhaft miterleben konnte.
Sprache, so schreibt Bodrozic, gibt den Unterdrückten die Gelegenheit, „ihre Gedanken auf die Möglichkeit der Freiheit auszurichten.“ Genau das geschieht zur Zeit auf den Straßen von Cairo. Die Hemmschwelle des Denken- und Artikulieren-dürfens ist gefallen, weil es andere vorgemacht haben; die anderen, das sind die unmittelbaren Nachbarn, die, die mitunter dieselbe Sprache sprechen.
Chöre wie „Al Shaab yurid tagheer el nizam“ (Das Volk will eine Veränderung des Systems) schallen zur Zeit laut durch den gesamten Nahen Osten.
Einfache Sprache, verständliche Sprache, Worte, die eine Wut und ein Verlangen und eine Sehnsucht artikulieren, die sich lange angestaut hat.
Was passiert, wenn menschliche Gewalt nicht mehr gegen das Sprachrohr der Tausenden ankommt, konnte man gestern sehen, als Hosni Mubarak zum zweiten Mal seit Beginn der Proteste vor die Kameras des nationalen Fernsehsenders trat und eine weitere Rede hielt, die noch zynischer, noch herablassender in ihrer Wortwahl daher kam als die erste am vergangenen Freitag.
Mubarak spricht langsam, bedächtig, wie ein enttäuschter Vater, der seine Kinder rügt, dass sie sein Auto dreckig gemacht haben. Er spricht davon, wie er nie darum gebeten hat, Präsident zu werden, wie er immer versucht hat, im besten Interesse seines Volkes zu handeln. Er sagt, er werde nicht mehr zur Präsidentschaftswahl antreten, werde Gesetzesreformen einleiten. Lippenbekenntnisse und Hinhaltetaktik, sagt ElBaradei kurz nach der Rede im CNN-Interview.
Hat Mubarak wirklich gehofft, ein Volk so von den Straßen zu scheuchen? Ein Volk, das seit Tagen seinen unmittelbaren Rückzug fordert, mit mehr als eindeutigen Gesten?
Schon während der Übertragung der Rede pfiffen die Demonstranten, warfen Schuhe auf die Übertragungsleinwände und machten ihrem Ärger einmal mehr mit Worten Luft: „Behandle uns nicht wie kleine Kinder!“ - Da hat wohl jemand unterschätzt, wie leicht seine Rhetorik zu durchschauen ist von denjenigen, die das Wort „Freiheit“ erst einmal laut gedacht haben.
Die nächste Konsequenz ist nun heute, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Unter dem Schleier vermeintlich zurück kehrender Normalität – das Internet und auch die Telefonleitungen scheinen über weite Strecken wieder zu funktionieren, die Ausgehsperre wurde gelockert – schickt Mubarak bezahlte Schergen auf die Straßen, vermeintliche Befürworter des Regimes, die mit Gegenparolen, aber auch Waffen versuchen, der neu gefundenen Artikulationsfreude der Ägypter zu begegnen. Es bleibt zu hoffen – und ich glaube ganz fest daran – dass die friedlichen Rufe nach Freiheit und Veränderung sich nicht zum Schweigen bringen lassen, und dass auch dieser neue Versuch nur mit noch lauteren Rufen quittiert wird.
Darüber, welche Schwierigkeiten die westlichen Mächte mit diesem freiheitlichen Sprachduktus haben, und warum sie langsam aber sicher anfangen sollten, die Wörterbücher zu wälzen, bald mehr!

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