Montag, 30. Mai 2011

Orientalism-ism

Wenn ich mir von einer guten Fee etwas wünschen dürfte, dann würde ich sagen: „Hey, Fee. Mach doch mal, dass der Orientalismus in der selbsternannten Ersten Welt im 21. Jahrhundert endlich verschwindet!“
Komischer Wunsch, ich weiß, man könnte sich ja auch neue Schuhe wünschen, oder eine Weltreise, oder den Nobelpreis. Aber mich ärgert der alltägliche Orientalismus um mich herum einfach über alle Maßen, und ich glaube wirklich, könnte die gute Fee den beseitigen, ginge es mir sehr viel besser.
Gestern beispielsweise habe ich mich mit einer Kollegin unterhalten. Die hat beruflich auch hin und wieder mit arabischer Literatur, Musik und Politik zu tun, und erzählte folgende Anekdote:
Sie zeigt einem Kollegen ein Video auf Youtube, wo eine junge ägyptische Dichterin ein Werk vorliest, und zwar auf einer Bühne, vor Publikum. Ich kenne das Video, und glaube zu wissen, was als Nächstes kommt.
„Lass mich raten“, sage ich, „der hat sich dran gestört, dass sie Kopftuch trägt, obwohl sie Anfang zwanzig ist und zur Bildungselite gehört!“
„Ne, viel schlimmer“, sagt die Kollegin. „Am Ende klatschen die Leute im Publikum ja. Und der Typ meinte ernsthaft: 'Ja, das ist ja jetzt schon sehr westlich, dass die applaudieren, ne?'“
Mir fällt vor entsetztem Erstaunen erstmal die Kinnlade runter. Klar, der Orientale hat sich die Kulturtechnik des Applauses erst bei uns abschauen müssen, einem Teil der Menschheit, der bekannt dafür ist, artig und gesittet, aber nicht zu lautstark und enthusiastisch auf künstlerische Darbietungen zu reagieren.
„Was denkt der denn?“, frage ich immer noch fassungslos. „Dass die Leute sonst mit Dingen werfen und die Bühne stürmen?“

Der wilde und zügellose Orientale. Das Bild kennt der Westen, das mag der Westen, das kann der Westen kontrollieren und interpretieren. Stereotypen wie „die sind ja so gastfreundlich“ oder „die treten ja immer und überall gleich mit der ganzen Sippe auf“, sie sind ja gar nicht böse gemeint (meistens), aber sie nerven einfach unheimlich.

Leute, kommt doch mal unter eurer Tausend-und-Eine-Nacht-Decke hervor und schaut euch um! Wann wenn nicht jetzt müsste jedem noch so verbohrten Orientalisten unter uns klar werden, dass die Menschen im Nahen Osten keinesfalls kameltreibende, frauenverprügelnde und säbelschwingende Jihadisten sind?
Und wenn hierzulande plötzlich überall Dossiers, Spezialsendungen und Sonderausgaben zum Thema erscheinen, ist TROTZDEM immer noch das obligatorische Kamel, die Palme, der Teppichhändler oder eine Wasserpfeife irgendwo zu sehen. Und Begriffe wie „Arabien“, „Arabische Welt“ und „Neue Arabische Welt“ helfen da ganz und gar nicht weiter! Seht doch mal ein, dass auch Länder wie Ägypten, Syrien, Tunesien und Libanon im 21. Jahrhundert angekommen sind. dass es keine Seltenheit ist, dass die jungen Leute dort hervorragend ausgebildet und weit gereist sind. Dass wir nicht immer und überall unsere Parameter und Filter und Stereotypen anlegen dürfen!

„Manchmal hab ich einfach die Nase voll von diesem unbezahlten Bildungsauftrag“, sagt meine Kollegin am Ende ziemlich desillusioniert. Kann ich verstehen, geht mir manchmal auch so. Aber wenn ich mal wieder im Spiegel das Wort „Arabien“ lese und den Quotenmoslem mit Bart und Tunika in einer Werbeanzeige in der Bahn sehe, dann juckt's mich ja doch.

Also – wer sich weiterbilden möchte, sollte mal zu Edward Saids Klassiker „Orientalismus“ greifen. Und ansonsten – einfach mal kurz nachdenken und dann lieber Klappe halten, ehe man mal wieder versehentlich Vorurteile drischt.

2 Kommentare:

  1. Ach, naja...schon das Wort "Arabien" impliziert eine heterogene Gesellschaft, die es so gar nicht geben kann! Ähnlich dem "Europäer" oder dem "Amerikaner"!

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  2. Aber im Gegensatz zu "Arabien" handelt es sich bei "Europa" und "Amerika" zumindest um geographisch feststehende Räume. Aber wer hat den mal irgendwann festgelegt, wo und was dieses "Arabien" eigentlich ist?

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